Augen und Gehirn

Augen und Gehirn
Augen und Gehirn
 
Die Innenseite des Auges wird durch die Netzhaut ausgekleidet. Die Netzhaut (Retina) ist ein mehrschichtiges Gewebe aus Sinnes-, Nerven- und Gliazellen. Die ersten Schritte der neuronalen Bildverarbeitung finden schon in der Netzhaut statt. Nervenfortsätze (Axone) von Nervenzellen der Netzhaut bilden den Sehnerv. Netzhaut und Sehnerv sind ein Teil des Gehirns. Keine Sehleistung lässt sich ohne das Gehirn erklären.
 
 Die Sehbahn vom Auge zum Gehirn
 
Der Sehnerv (Nervus opticus) zieht vom Auge zur Sehnervkreuzung, wo die Hälfte der Nervenfasern des linken Auges zur rechten Gehirnhälfte laufen und umgekehrt. So gelangen die Informationen aus einem Auge in die beiden Gehirnhälften. Nach der Sehnervkreuzung setzt sich das jetzt Sehtrakt genannte Bündel der Sehnervenfasern bis zum Stammhirn fort. Mehr als 90 Prozent der Fasern enden dort im seitlichen Kniehöcker. Hier wird die Erregung über Synapsen auf Folgezellen übertragen, deren Axone bis zur visuellen Großhirnrinde im Hinterhaupt reichen. Ein kleiner Teil der Sehnervfasern zweigt schon vor dem seitlichen Kniehöcker zu anderen Zielgebieten des Stammhirns ab, in denen unter anderem die Bewegung der Augen, die Größe der Pupille und die innere Uhr gesteuert werden.
 
Die stark gefaltete Großhirnrinde und die dorthin führende Sehbahn ist eine Errungenschaft der Säugetiere. Vögel haben anstelle des Großhirns einen andersartigen Hirnteil, den Wulst, ausgebildet. Reptilien, Amphibien und Fische besitzen gar keine Großhirnrinde. Sie haben nur das Stammhirn zum Sehen. Der Teil des Sehorgans, der sich beim Menschen im Stammhirn befindet, ist stammesgeschichtlich älter, der Teil im Großhirn jünger.
 
Netzhautstruktur und Sehleistung
 
Die Sehbahn zum Großhirn beginnt mit der Netzhaut. Der Augenarzt sieht sie, wenn er mit einem Augenspiegel durch die Pupille in das Auge hineinschaut. Die Adern der Netzhaut entspringen im blinden Fleck. Dort, wo die feinen Blutgefäße von allen Seiten auf eine aderfreie Stelle zulaufen, befindet sich die Sehgrube. Beim Sehen bemerkt man diese speziellen Strukturen der Netzhaut nicht unmittelbar. Man hat jedenfalls nicht den Eindruck, dass die Umgebung in der Mitte des Sehfeldes anders aussieht als am Rand, obwohl die Netzhaut in der Mitte anders gebaut ist. Unter normalen Sehbedingungen tasten die Augen die Umgebung ab. Aus der dabei gewonnen Information entwickelt sich die Sehwahrnehmung in vielen Verarbeitungsschritten. Würden die Erregungen der Netzhautzellen unmittelbar in Wahrnehmungen umgesetzt, kämen die Strukturen der Netzhaut beim Sehen zum Vorschein. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Die Wahrnehmung basiert somit nicht unmittelbar auf der Sinnes- und Nervenerregung der Netzhaut. Was man wahrnimmt, wird vielmehr durch die weiterverarbeitete Erregung im Gehirn hervorgebracht. Die Baueigentümlichkeiten der Netzhaut zeigen sich nur bei ganz speziellen Beobachtungen.
 
Den blinden Fleck entdeckte erst 1666 der französische Physiker Edme de Mariotte. Dass man ihn früher nicht kannte, ist erstaunlich, weil er so einfach nachzuweisen ist. Der blinde Fleck existiert, weil die Sehzellen im Auge der Wirbeltiere in der hintersten Netzhautschicht liegen. Die Nervenfasern der retinalen Ganglienzellen, die den Sehnerv bilden, entspringen deshalb auf der Innenseite der Netzhaut im Auge. Da die Sehbahn aus dem Auge heraus durch die Schicht der Sehzellen führen muss, um zum Gehirn zu gelangen, befindet sich in der Sehzellschicht eine Lücke, der blinde Fleck. Warum sieht man den blinden Fleck normalerweise nicht? Die Antwort ist einfach. Man sieht nur, was die Sinnes- und Nervenzellen melden. Wo keine Sinneszellen sind, wird nichts gemeldet. Wenn allerdings ein Lichtreiz so auf den blinden Fleck platziert wird, dass er plötzlich nicht mehr gesehen wird, dann fällt sein Verschwinden auf. Dass der blinde Fleck unsichtbar sei, weil er irgendwie ausgefüllt würde, ist eine verbreitete, aber irreführende Behauptung. Selbstverständlich stehen dem Menschen immer Informationen über seine Umgebung zur Verfügung, auch über die Teile, die er gerade nicht sieht, weil sie hinter ihm liegen oder weil er gerade nicht hinsieht. Das gilt ganz allgemein und nicht nur für den blinden Fleck. Den blinden Fleck bemerkt man aber nur daran, dass er nicht ausgefüllt wird.
 
Wie wird die Sehschärfe bestimmt?
 
Wenn man einen Gegenstand ansieht, richtet man seine Augen so auf ihn, dass er auf der Sehgrube abgebildet wird. Dort stehen die Sehzellen besonders dicht, sodass in der Sehgrube auch die Sehschärfe besonders groß ist.
 
Die Sehschärfe bestimmt der Augenarzt mit Schrifttafeln, Landolt-Ringen oder Strichgittern. Bei festgelegtem Abstand prüft er, bis zu welcher Buchstabengröße der Patient lesen kann, bis zu welcher Größe er die Richtung des Spaltes am Landolt-Ring erkennt, oder sagen kann, ob das Gitter senkrecht oder waagerecht orientiert ist. Für die jeweils kleinste Figur kann man die Strichdicke oder Spaltgröße messen und den Sehwinkel α berechnen. Das Maß für die Sehschärfe ist oft der Kehrwert des kleinsten erkennbaren Sehwinkels, der als Visus (1/α') bezeichnet wird, wobei der Strich hinter dem α anzeigt, dass der Visus nicht nach Winkelgrad, sondern nach Winkelminuten zu berechnen ist. Ist der gerade noch erkennbare Sehwinkel klein, ist die Sehschärfe (Visus) groß. Ein typischer Wert für den kleinsten Sehwinkel ist α = 1 Winkelminute. Das entspricht ungefähr dem Abstand zwischen zwei Sehzellen in der Sehgrube. Die Sehschärfe ist in der Sehgrube viel größer als am Rand der Netzhaut. Sie verringert sich mit dem Abstand vom Mittelpunkt der Sehgrube nach außen ungefähr in der Weise, wie die Dichte der Sehzellen abnimmt. Die Sehschärfe ist offensichtlich von der Netzhautstruktur abhängig.
 
Wie bei allen optischen Systemen kann man auch beim Auge das optische Auflösungsvermögen berechnen. Dieses findet seine physikalische Grenze in der Größe des Beugungsscheibchens, das heißt der Größe des kleinstmöglichen Punktbildes. Die Größe des Beugungsscheibchens ist der Wellenlänge des Lichtes proportional und der Pupillengröße umgekehrt proportional. Darum haben hochauflösende Fotoobjektive einen großen Durchmesser. Die Größe des Beugungsscheibchens im Auge entspricht ungefähr dem Abstand zweier Lichtsinneszellen in der Sehgrube. Die anatomischen Eigenschaften der Netzhaut sind somit an die physikalischen Möglichkeiten des Auges angepasst. Wäre die Besetzungsdichte mit Zapfen noch größer, würde die Sehschärfe trotzdem nicht besser, weil die optische Abbildung im Auge nicht mehr hergibt. Die Auflösungsqualität der optischen Abbildung im Auge und das Raster der Lichtsinneszellen sind aufeinander abgestimmt. Wenn Brillengläser die Sehschärfe verbessern können, ist sie durch die Eigenschaften der Augenoptik begrenzt. Die Sehschärfe kann aber auch durch neuronale Eigenschaften des Auges beschränkt sein. Strichgitter eignen sich in beiden Fällen, die Sehschärfe zuverlässig zu registrieren. Damit ist folgendes gemeint: Wenn die Arbeitsbedingungen genau festgelegt sind, liefert die Wiederholung der Messung dieselben Ergebnisse. Wird aber das Testmuster, die Beleuchtung, der Kontrast oder die Farbe der Vorlage geändert, erhält man abweichende Messergebnisse. Das überrascht nicht, weil mit den veränderten Testbedingungen auch andere Anforderungen an die Bildverarbeitung im Nervensystem gestellt werden.
 
Eine ganz andere Aufgaben an das Auge und das Gehirn stellt das folgende Muster dar: Die Abweichung einer Scheibe, die zwischen der gedachten Verbindungslinie von zwei weiteren Scheiben liegt, ist gerade noch sichtbar, wenn die Abweichung nur wenige Winkelsekunden beträgt. Diese Wahrnehmungsleistung heißt Nonius-Sehschärfe. Sie ist viel größer, als man nach der Sehzellendichte der Netzhaut erwarten sollte, das heißt der kleinste Sehwinkel unter dem die Abweichung zwischen den Scheiben noch erkennbar ist, liegt weit unter einer Winkelminute.
 
In der Nonius-Sehschärfe zeigt sich die Fähigkeit, die Richtung zu Gegenständen wahrzunehmen, beispielsweise um beim Steinewerfen ein bestimmtes Ziel zu treffen. Die Richtung erkennt man auch bei unscharfem Bild im Auge, etwa wenn man die Brille abgenommen hat, noch gut. Die normale Sehschärfe verschlechtert sich dagegen dramatisch, wenn das Bild im Auge unscharf wird. Der Augenarzt verwendet daher die Strichgitter als Testmuster, um die richtigen Brillengläser auszusuchen. Mit ihnen kann er feststellen, ob das Bild im Auge scharf ist. Die Nonius-Sehschärfe gibt darüber kaum Auskunft. Um die Nonius-Sehschärfe verstehen zu können, muss man die Struktur des Areals V1 in der visuellen Hirnrinde kennen.
 
Der Bau der visuellen Großhirnrinde
 
Der Aufbau der Großhirnrinde ist schwer zu durchschauen, allein schon aufgrund ihrer komplizierten Faltung. Für die Untersuchung der Sehrinde des Großhirns stehen unter anderem elektrophysiologische Methoden zur Verfügung. In einem solchen Experiment ist ein Auge eines narkotisierten Versuchstieres auf einen Schirm gerichtet, auf den Lichtreize projiziert werden. Eine Mikroelektrode registriert die Aktionspotenziale einer Nervenzelle im Areal V1 der Hirnrinde. Der Versuchsleiter verschiebt den Lichtreiz auf dem Bildschirm, bis er einen Ort findet, an dem das Licht Aktionspotenziale auslöst oder unterdrückt. Den Reizort im Auge kann er anschließend berechnen. Die neuronale Projektion der Netzhaut auf das Areal V1 der Hirnrinde kann mit dieser Methode Punkt für Punkt untersucht werden. Jede Seite des Großhirns erhält danach Sinnesmeldungen aus der gegenüber liegenden Hälfte des Sehfeldes. Die Abbildung der Netzhaut auf das Areal V1 ist retinotop, das heißt benachbarte Orte (griechisch topos) der Netzhaut (Retina) sind mit benachbarten Orten im Areal V1 verbunden. Die zentralen Areale der Netzhaut sind allerdings in V1 stark vergrößert, die Randbereiche verkleinert. Ein Halbkreis um den Mittelpunkt der Netzhaut im Auge wird zu einer senkrechten Linie in V1, eine senkrechte Linie durch den Mittelpunkt des Auges zu zwei horizontalen Linien in V1.
 
Die geometrische Verzerrung erweist sich bei genauerer Betrachtung der neuroanatomischen Verhältnisse als notwendig. Im Areal V1 enden in jeder Hirnhälfte ungefähr eine Million Axone der Sehbahn. Die meisten dieser Axone sind mit retinalen Ganglienzellen aus dem Bereich der Sehgrube verknüpft. Dort ist nicht nur die Besetzungsdichte mit Zapfen am größten, sondern es kommen auf jeden Zapfen drei bis vier retinale Ganglienzellen. Am Rand der Netzhaut ist die Häufigkeit der Sehzellen geringer. Außerdem sind dort mehrere Sehzellen mit nur einer Ganglienzelle verschaltet. Das bedeutet, dass nur relativ wenige Sehbahnfasern aus den Randbereichen der Netzhaut stammen, die meisten dagegen aus dem Bereich der Sehgrube.
 
Die 250 Millionen Nervenzellen in jedem Areal V1 sind zu Blöcken zusammengefasst, von denen es auf jeder Seite ungefähr 1000 gibt. Zu jedem dieser Blöcke (hypercolumn) gehört ungefähr 1 mm2 der Hirnrinde. Weil die einzelnen Blöcke etwa gleich viele Nervenfasern der Sehbahn aufnehmen, sind die meisten mit dem Bereich in und neben der Sehgrube verknüpft. Dadurch vergrößert sich automatisch die Repräsentation der Netzhautzentralbereiche in der Großhirnrinde gewaltig, während die Randbereiche relativ schrumpfen. So entsteht die eigentümliche geometrische Transformation bei der retinalen Projektion auf die Großhirnrinde. Zu den Blöcken des Zentralbereiches gehören jeweils nur winzige Netzhautareale und dementsprechend auch nur kleine Ausschnitte des Sehfeldes. Die Blöcke des Randbereichs repräsentieren jeweils große Teile des Sehfeldes. Die Richtung zu den gesehenen Gegenständen der Umgebung ist deshalb im Areal V1 nur in der Mitte des Sehfeldes sehr gut, am Rande aber nur sehr ungenau repräsentiert.
 
Mit der Nonius-Sehschärfe verhält es sich genauso. Wenn man sie mithilfe eines Perimeters an verschiedenen Stellen der Netzhaut bestimmt, findet man, dass sie nur im Bereich der Sehgrube groß ist, zum Rande der Netzhaut hin aber in dem Maße abfällt, in dem die Sehfeldbereiche pro V1-Block größer werden. Dieser Abfall ist erwartungsgemäß steiler als der Abfall der Zapfendichte in der Netzhaut. In der Nonius-Sehschärfe zeigt sich somit eine strukturelle Eigenschaft des Großhirnareals V1.
 
Blindsight-Patienten
 
Der Mensch braucht das Großhirn, um sehen zu können. Diese Feststellung bestätigen Patienten mit zerstörter visueller Großhirnrinde, die nach eigener Aussage blind sind. Man hatte aber schon früher bemerkt, dass Tiere und Menschen ohne funktionstüchtiges visuelles Großhirn auf Lichtreize reagieren, sich ihnen zuwenden und Hindernissen ausweichen. Diese Menschen können aber nicht sagen, was sie sehen, auch wenn sie zweckmäßig darauf reagieren. Die durch das Stammhirn vermittelte Sehfähigkeit trägt den englischen Namen Blindsight (die deutsche Übersetzung Blindsehen ist ungebräuchlich).
 
Blindsight kann man bei Menschen mithilfe von Perimetern studieren. Mit einem Perimeter kann ein Augenarzt das Skotom untersuchen, das heißt den Bereich des Sehfeldes, in dem ein Blindsight-Patient eine Sichtmarke nach eigenen Angaben nicht wahrnimmt. Dieses Areal entspricht dem zerstörten Teil der Großhirnrinde. Bei Untersuchungen in den 1970er-Jahren sollten Blindsight-Patienten mit dem Finger auf Sichtmarken deuten. Das gelang ihnen ohne Probleme, wenn der Lichtreiz in dem Teil des Sehfeldes geboten wurde, in dem der Patient sehen konnte. Wanderte die Sichtmarke aber in den blinden Bereich, deutete der Patient noch immer auf sie, sobald sie aufleuchtete. Auf die Frage, was er sehe, bestritt der Patient in der Regel, dass er etwas wahrgenommen habe.
 
Die Sehleistungen des Stammhirns vermitteln somit Informationen über den Ort, an dem etwas geschieht, und auf den sich die Aufmerksamkeit richten soll. Diese Nachrichten werden aber nicht bewusst. Die Orientierungsreaktionen, die das Stammhirn vermittelt, sind in diesem Punkt mit den Größenänderungen der Pupillen vergleichbar, die ebenfalls über das Stammhirn gesteuert werden, ohne dass wir etwas davon merken. Die visuellen Verarbeitungsleistungen des Stammhirns sind keineswegs primitiv. Mit einem Patienten wurde in einer Untersuchung vereinbart, dass er mit der Hand signalisieren solle, ob ein aufleuchtender Strich an der Projektionswand waagerecht oder senkrecht steht. Diese Aufgabe wurde mit der Hand richtig gelöst, obwohl der Patient nicht sagen konnte, was er sah. Dass das Stammhirn zu anspruchsvollen Sehleistungen fähig ist, überrascht nicht. Schließlich wickeln Fische alle ihre Sehleistungen über das Stammhirn ab. Das Besondere an Blindsight besteht darin, dass dieses Sehen dem Menschen nicht bewusst ist.
 
 Parallele Erregungsverarbeitung im Auge und im Gehirn
 
Die Nervenzellen im Auge und Gehirn reagieren alle mehr oder weniger selektiv auf jeweils bestimmte Reizmerkmale, wie Bewegung, Beleuchtungsänderung, Kontrast, räumliche Orientierung oder auf Kombinationen von ihnen. Wer herausfinden will, für welche Reize eine Zelle spezialisiert ist, muss mit einer feinen Mikroelektrode feststellen, welche Reize sie mit Aktionspotenzialen beantwortet. Das Auge eines narkotisierten Versuchstieres schaut dabei auf einen Bildschirm oder auf eine Projektionswand. Der Forscher sucht im einfachsten Fall mit einem Handprojektor den Ort, an dem die Zelle Lichtreize beantwortet. So findet er auf der Projektionswand das rezeptive Feld der Nervenzelle, von der er gerade Aktionspotenziale ableitet. Die Lage des rezeptiven Feldes auf der Netzhaut kann er berechnen. Die rezeptiven Felder benachbarter Nervenzellen überlappen einander.
 
Die Nervenzellen sind für verschiedene Aufgaben spezialisiert
 
Die retinalen Ganglienzellen reagieren am stärksten auf kleine Lichtpunkte. Die On-Zellen beantworten Lichtreize in der Mitte des rezeptiven Feldes mit einer Steigerung, Reizungen des Umfeldes hingegen mit einer Senkung der Impulsfrequenz. Bei den Off-Zellen ist es genau umgekehrt. Es gibt also im rezeptiven Feld hemmende und erregende neuronale Vernetzungen. Die retinalen Ganglienzellen sind weiter unterteilt in die M-Zellen (nach lateinisch magnus: groß, weil ihre Axone in den magnozellulären Schichten des seitlichen Kniehöckers im Stammhirn enden) und die P-Zellen (nach lateinisch parvus: klein, weil sie mit den parvozellulären Schichten im seitlichen Kniehöcker verbunden sind).
 
Die M-Zellen melden nicht, wie hell oder dunkel es ist, sondern nur, ob es heller oder dunkler wird. In der Erregung der M-Zellen sind alle Signale der verschiedenen Zapfentypen zusammengefasst. Dadurch gehen Farbinformationen, die im Verhältnis der Zapfen-Erregungen zueinander verschlüsselt sind, verloren. Die P-Zellen reagieren langsamer als die M-Zellen und haben kleinere rezeptive Felder, wodurch sie noch feinere Muster registrieren können. Ihre Erregung und Hemmung ist zapfen- und damit farbspezifisch. Die rezeptiven Felder werden mit dem Aufstieg in der Sehbahn immer größer und selektiver in ihrem Antwortverhalten. Alle bisher geschilderten Typen rezeptiver Felder sind kreisförmig aufgebaut. Auch in der Großhirnrinde kommen Nervenzellen mit kreisförmigen rezeptiven Feldern vor, die meisten sind dort aber anders organisiert. Sie heißen »simple«, »complex« oder »hypercomplex«. Alle drei Typen reagieren auf Kanten und Linien bestimmter Orientierung, die »hypercomplex«-Zellen registrieren auch deren Enden.
 
Die visuelle Information ist offensichtlich auf parallele Nervenbahnen mit verschiedenen Eigenschaften aufgeteilt. Wie die Welt für jeden einzelnen Nervenzelltyp aussieht, vermitteln Experimente, die von Otto Creutzfeldt und Christoph Nothdurft durchgeführt wurden. Bei einem Affen wurden Aktionspotenziale registriert, während er auf eine Strahlenfigur sah. Da der narkotisierte Affe seinen Blick nicht über das Bild wandern lassen konnte, wurde das Bild auf der Projektionsfläche bewegt. Für das rezeptive Feld der jeweils untersuchten Zelle war der Effekt derselbe. Für jedes Aktionspotenzial druckte man computergesteuert jeweils an die Stelle einen Punkt auf das Papier, die dem Blickpunkt auf dem Bild in diesem Augenblick entsprach. Eine Nervenzelle aus dem seitlichen Kniehöcker mit konzentrischem rezeptiven Feld reagiert auf die ganze Strahlenfigur. Die »simple«- und »complex«-Zellen reagieren nur auf Konturen einer Richtung und die »hypercomplex«-Zelle vor allem auf die Enden der Linien. Jeder Nervenzelltyp registriert einen anderen Teil der Bildinformation.
 
Viele Nervenzellen der Großhirnrinde melden nicht nur Kanten, sondern auch Scheinkanten, wie man sie vom Kanisza-Dreieck kennt. Die Bedeutung der Scheinkanten für das Sehen ist groß, weil die Gegenstände in unserer Umgebung oft verdeckt oder aus anderen Gründen nicht vollständig sichtbar sind. An den Scheinkanten zeigt sich die Fähigkeit des Gehirns, Unvollständiges in der Wahrnehmung zu vollenden.
 
Räumliches Sehen und Tiefenwahrnehmungen
 
In der visuellen Großhirnrinde gibt es Nervenzellen, die uns zum stereoskopischen Tiefensehen verhelfen. Was heißt das? Menschen sehen fast alles mit zwei Augen, aber trotzdem mit beiden Augen nicht dasselbe. Die beiden Stäbe in der Abbildung werden in den beiden Augen mit verschiedenen Abständen zueinander abgebildet. Die Differenz der Abstände heißt Querdisparität. Sie entsteht durch die räumliche Position der Gegenstände vor den beiden Augen. Charles Wheatstone entdeckte 1838, dass die Querdisparität im Gehirn zur Wahrnehmung räumlicher Tiefe genutzt wird. Der experimentelle Beweis gelingt mit einem Spiegelstereoskop. Zwei flache Bilder werden den beiden Augen getrennt dargeboten. Weil die horizontalen Abstände der Stäbe in diesen Bildern eine Querdisparität besitzen, sieht man sie in räumlicher Tiefe.
 
Räumliche Tiefe lässt sich auch einäugig wahrnehmen. Die Querdisparität kann man aber nur mit zwei Augen feststellen. Die durch Querdisparität hervorgerufene Tiefenwahrnehmung hat einen eigenen Namen: Stereopsis. Wheatstone verwendete ein Spiegelstereoskop. Weit verbreitet sind aber auch Stereoskope, bei denen Prismen dafür sorgen, dass jedes Auge auf eines von zwei Bilder gerichtet ist. Meistens sind es Fotografien, die unter etwas verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen wurden, als seien sie vom Ort der beiden Augen aus fotografiert. Stereoskopische Tiefe hat die Menschen seit ihrer späten Entdeckung im letzten Jahrhundert fasziniert, bis hin zu den Autostereogrammen unserer Tage.
 
Der ungarische Psychologe, Biologe und Mathematiker Bela Julesz entwickelte um 1960 die Julesz-Muster, von denen ein einfaches Beispiel abgebildet ist. Wer die beiden Muster ansieht, entdeckt auf beiden Seiten vielleicht einige Ähnlichkeiten wie die Punkthäufungen, für die unsere Augen besonders empfindlich sind. Den systematischen Unterschied zwischen dem rechten und dem linken Muster kann man aber kaum erkennen. Er zeigt sich erst, wenn jedes Auge auf nur eines der beiden Muster gerichtet ist, was am besten mit einem Stereoskop gelingt. Dann wird ein Quadrat sichtbar, das scheinbar über der Papierebene schwebt. Die Ursache ist auch hier eine Querdisparität. In den quadratischen Flächen sind die Punkte verschoben, wie in der Mitte gezeigt ist. Das entspricht der räumlichen Anordnung, die unten rekonstruiert ist.
 
Die Julesz-Muster hatten für die Wahrnehmungsforschung eine große Bedeutung. Sie zeigten, dass von der Bildinformation, die hier aus sandpapierartigen Punkten besteht, in der Sehbahn nichts verloren geht. In den Augen steht noch nicht fest, welcher Punkt für die Wahrnehmung des Quadrates wichtig sein könnte. Das entscheidet sich erst nach der Vereinigung der Beiträge beider Augen im Großhirn. Beim Transport dorthin muss deshalb die Bildinformation aller Punkte erhalten bleiben. Die Wissenschaftler glaubten vor der Entdeckung von Bela Julesz, die Bildauswertung werde im Gehirn zuerst durchgeführt und danach erst der binokulare Vergleich. Wenn das so wäre, dann würde das Quadrat nicht zu sehen sein. Es ist nur durch die Querdisparität gegeben, die zuerst ausgewertet werden muss. Erst im zweiten Schritt der Bildverarbeitung kann es zur Wahrnehmung des im Raum schwebenden Quadrats mit seinen Scheinkanten kommen.
 
In dem Julesz-Muster sind alle Punkte gleich. Folglich gibt es unübersehbar viele Kombinationsmöglichkeiten für die Punkte im rechten und linken Auge. Wie kommt es dazu, dass im Gehirn innerhalb kurzer Zeit für alle Punkte aus einem Auge der richtige Partner im anderen gefunden wird? Das Korrespondenzproblem kann durch die Fortschritte der neurophysiologischen Forschung der Stereopsis erklärt werden. In der visuellen Großhirnrinde fand man viele durch beide Augen erregbare Nervenzellen, die auf gleichzeitige Reizung durch beide Augen wesentlich stärker reagieren und auch für jeweils verschiedene Disparitäten spezialisiert sind. Solche Zellen lassen sich auch durch die Julesz-Muster reizen. Sie sind ein weiteres Beispiel für die Spezialisierung der Aufgaben von Nervenzellen und damit für das Konzept der parallelen Informationsverarbeitung im Nervensystem.
 
Die visuelle Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde
 
Die Spezialisierung für bestimmte Teilaspekte der Sinnesreize besteht nicht nur auf der Ebene von Nervenzelltypen, sondern auch in ganzen Feldern oder Arealen der Großhirnrinde. Im Hinterlappen des Großhirns, das heißt in der Nachbarschaft von V1, wies man seit den 1970er-Jahren retinotope Areale nach, also Areale, in denen benachbarte Nervenzellen melden, was im Auge und im visuellen Feld an benachbarten Orten geschieht.
 
Die Areale der Großhirnrinde sind durch viele Nervenfasern miteinander verbunden. Auf der Grundlage dieser Verbindungen wurden im gesamten Großhirn mehr als 30 Felder beschrieben, die visuelle Information verarbeiten. In den Feldern V1 bis V5 im visuellen Großhirn wurden die Verbindungen und Spezialisierungen detailiert untersucht. Der Informationsfluss verläuft überwiegend vom seitlichen Kniehöcker durch das Areal V1 zum Areal V2 und spaltet sich dann auf weitere Areale auf, die untereinander, vor allem wieder mit V2 und V1 verbunden sind. Die rezeptiven Felder sind bei den Nervenzellen der Areale V3 bis V5 viel größer. Die Ortsinformation ist dort offensichtlich von geringerer Bedeutung. In V4 entdeckte Semir Zeki mit Mikroelektroden farbcodierende, in V5 dagegen überwiegend Bewegung codierende Nervenzellen.
 
Diese elektrophysiologischen Forschungsergebnisse fanden eine Bestätigung mit dem modernen bildgebenden Verfahren der Positron-Emissions-Tomographie (PET). Bei der PET-Methode werden regionale Schwankungen des Blutflusses im Gehirn von außen gemessen. Den Patienten werden radioaktive Substanzen mit kurzer Halbwertszeit ins Blut injiziert. Beim Zerfall entstehen Positronen, die beim Zusammentreffen mit Elektronen verschwinden, wobei zwei Photonen in genau entgegengesetzte Richtung freigesetzt werden. Diese werden mit Detektoren außerhalb des Kopfes registriert. Den Ursprungsort der Photonen berechnet ein Computer aus vielen Einzelmessungen und bestimmt so die Blutflussdichte im Gehirn. Auf einem Bildschirm wird sie mit einem Farbcode veranschaulicht, wobei das Gehirn tomographisch dargestellt wird, das heißt so, als sei es in Scheiben geschnitten.
 
Es gibt Patienten, die unter Hemiachromatopsie leiden, das heißt unter Farbenblindheit in einer Hälfte ihres Gesichtsfeldes. Die Welt sieht für sie auf einer Seite unbunt, auf der anderen Seite aber bunt aus. Alle anderen Funktionen, wie Bewegungssehen, Stereopsis und Sehschärfe können unbeeinträchtigt sein. Bei mehreren solchen Patienten konnte Semir Zeki mit der PET-Methode einen begrenzten Hirnschaden feststellen, der V4 auf einer Seite des Großhirns einschloss. Menschen brauchen offensichtlich das Areal V4 zum Farbensehen. Wenn es einseitig fehlt, sind sie dementsprechend einseitig farbenblind. Im Jahr 1983 gelang Josef Zihl der analoge Nachweis für das Bewegungssehen in V5, einem Areal das oft auch MT (mediotemporales Areal) genannt wird. Eine Patientin konnte bei sonst normaler Sehfähigkeit keine Bewegung erkennen. Ein Auto auf der Straße war für sie erst hier, dann plötzlich da. Von dem Verbleib in der Zwischenzeit hatte sie keine Wahrnehmung. Sie erkannte nicht, wie die Teetasse langsam voll wurde, sodass sie nicht wusste, wann sie mit dem Einschenken aufhören sollte. Die mit PET nachgewiesenen neurologischen Schäden dieser Patientin schlossen das Areal V5 auf beiden Seiten des Großhirns ein. So stützt auch dieses Ergebnis das Konzept der parallelen Verarbeitung in verschieden spezialisierten Großhirnrindenfeldern.
 
Prof. Dr. Christoph von Campenhausen
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Farbensehen beim Menschen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Sehen: Die Umgebung wird im Auge abgebildet
 
 
Hubel, David H.: Auge und Gehirn. Neurobiologie des Sehens. Aus dem Amerikanischen. Heidelberg 21990.
 Maffei, Lamberto und Fiorentini, Adriana: Das Bild im Kopf. Von der optischen Wahrnehmung zum Kunstwerk. Aus dem Italienischen. Basel u. a. 1997.
 Rock, Irvin: Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen. Aus dem Amerikanischen. Neuausgabe Heidelberg u. a. 1998.
 
Wahrnehmung und visuelles System. Einführung von Manfred Ritter. Heidelberg 21987.
 Zeki, Semir: A vision of the brain. Korrigierter Neudruck Oxford u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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